Der Sammlungsraum

Seit einigen Jahren verfügt die Stiftung Kunsthaus-Sammlung über einen Raum, in welchem sie ihre Neuanschaffungen oder eine Auswahl der Werke aus der Sammlung zeigen kann.

Figures détournées

19.9.-22.11.2020

Mit Werken von Haus am Gern, Hervé Graumann, Michael Sailstorfer, Urs Lüthi

Figures détournées versammelt verschiedene Porträts aus der Kunsthaus-Sammlung, die sich über die irritierende Dimension des Dargestellten zusammenfinden. Die vielfältigen Formen der Zweckentfremdung des Genres, die von den Künstlern eingeführt wurden, beschäftigen unsere Wahrnehmung und damit auch unsere Reflexion. Tatsächlich werden diese (Selbst-)Porträts als Befragungen zu Kunst, Gesellschaft, Wahrnehmung oder zum formalen Aspekt der Figuration präsentiert. Mit dieser kritischen Komponente kommen die Werke mit viel Schalkhaftigkeit daher, spielen mit Konventionen und haben Spass daran.

Seit 1998 porträtieren sich Haus am Gern, bestehend aus Barbara Meyer Cesta (*1959, CH) und Rudolf Steiner (*1964, CH), immer wieder als Künstlerpaar für Kunstinstitutionen, mit denen sie verbunden fühlen. In Selbstportrait als Künstlerpaar XVI (SVP) (2011) nähert sich das Duo dem künstlerischen Schaffen mit Leichtigkeit, Ironie und einem scharfen kritischen Blick. Anlässlich der Eröffnung der Cantonale Berne Jura 2011 bestellten die beiden für jeden der acht an der beteiligten Kunstinstitutionen zwei Pizzen, wobei sie die künstlerische Umsetzung dieses Projekts an die Pizzaiolos übergaben, die einzig den Hinweis erhielten, Pizzas nach einem Porträt des Künstlerpaars zu kreieren. Nach der Auslieferung wurde das Endergebnis fotografiert und dann gegessen. Die Fotografien wurden am folgenden Tag in die verschiedenen Ausstellungen der Cantonale integriert. Der Tradition der Institutionskritik nahe stehend, stellt dieses Werk ein Instrument zur Selbstreflexion über die Kreisläufe, Funktionsweisen und Konventionen des künstlerischen Umfelds dar, die es gleichzeitig auf schelmische Weise unterläuft.

Hervé Graumann (*1963, CH), ein Pionier der digitalen Kunst in der Schweiz, begegnet dem Genre des Selbstporträts mit grossem Vergnügen, indem er sein virtuelles Doppel Raoul Pictor cherche son style (1993-2000) kreiert. Durch den Transfer von Bildkunst in die digitale Domäne befasst sich diese Arbeit mit den Veränderungen in unserem Verhältnis zur Welt, die durch digitale Innovationen hervorgerufen werden, insbesondere in ihren formalen und konzeptuellen Darstellungen. Das von Graumann entwickelte Programm kann – durch die zufällige Generierung und Kombination gezeichneter Elemente – eine unendliche Anzahl einzigartiger Kreationen erzeugen, die alle Merkmale der Authentizität und Einmaligkeit aufweisen, die normalerweise in seriellen Kunstwerken zu finden sind: Datum, Signatur und Nummerierung. Mit diesen neuen digitalen Werkzeugen unterläuft Graumann den Mythos des Künstlers. Das individuelle Schaffen, wie es in der Kunstwelt anerkannt ist, wird hier durch diese autonome Generierungssoftware kompromittiert. Mit Blanc sur Blanc (mit den Herren Damien Blanc und Alberto Blanc) (1993) verweist Graumann mit Humor auf das gleichnamige ikonische Werk von Kasimir Malewitsch, indem er mit der Semantik des Titels spielt. Weit entfernt von den suprematisitischen Experimenten der metaphysischen Abstraktion, ist dieses fotografische Porträt entschieden figurativ: Es zeigt zwei Männer, einer auf den Schultern des anderen und beide tragen denselben Familiennamen «Blanc».

Der deutsche Konzeptkünstler Michael Sailstorfer (*1979, DE) entwirft mit Antiherbst (2012) ein poetisches Porträt, in dem Natur und Künstlichkeit ineinander verschränkt sind. Die Serie von 12 Fotografien dokumentiert die jahreszeitliche Verwandlung eines Baumes an den Rheinufern bei Walsum (DE). Während acht Wochen sammelten Sailstorfer und sein Team das zu Boden gefallene herbstliche Laub, um es dann grün zu bemalen. Der Künstler befestigte die Blätter anschliessend einzeln auf den Ästen und schuf so einen Baum, der dem Lauf der Zeit und den Jahreszeiten trotzt. Indem er den natürlichen Prozess umkehrt, stellt Sailstorfer die Beziehung zwischen Menschen und Umwelt, Kunst und Natur sowie den Begriff der Einmischung in Frage. Dieses sisyphusartige Werk greift zudem in einen suburbanen Raum in einer hoch industrialisierten Region Westdeutschlands ein, in der nichts wirklich natürlich ist, sondern alles durch menschliche Eingriffe kultiviert wird.

Urs Lüthi (*1947, CH) beschäftigt sich in seinem Werk seit vielen Jahren mit sozialen und philosophischen Fragen. Stets sich selbst als Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Arbeit nehmend, erforscht er die Möglichkeiten und Formen des künstlerischen Ausdrucks durch seine eigene Inszenierung. Dies gilt auch für die PROTOTYPEN aus der Reihe ART IS THE BETTER LIFE (2009): Die fünf Figuren vereinen religiöse Statuen mit dem Gesicht des Künstlers. Die Skulptur «Prediger», die hier zu sehen ist, zeugt von der Mehrdeutigkeit solcher Darstellungen. Indem der Künstler sich in einer christlichen Figur verkörpert, die durch Glas geschützt und auf einem Sockel steht, versucht er, die religiöse Sakralität zu unterlaufen? Oder unterstreicht er etwa auf humorvolle Weise seine grössenwahnsinnige Haltung als Künstler? Es stellen sich viele Fragen, welche die Besucher*innen zur Reflexion einladen.

Kuratorin: Laura Weber