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STÉPHANIE SAADÉ

Building a Home with Time

28.1.-27.3.2022

Stéphanie Saadé (*1983, Libanon) beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit Themen wie Erinnerung und individueller Erfahrung von Zeit, Massstäblichkeit und Ortsbezügen. Sie beeinflusst existierende Objekte auf subtile Weise mit leisen künstlerischen Eingriffen und stellt sie in ein loses Bezugsnetz von Referenzen. Sie fungieren wie persönliche Objets trouvés, die Sprache nicht aussprechen, aber denken. Die Künstlerin untersucht die Beschaffenheit von Erinnerung, Historizität oder der Condition Humaine und verwendet dazu Transposition, Verschiebung und Metapher, um die Beziehung zwischen dem Intimen und dem Universellen zu erkunden.

Die Ausstellung vereint neue und bestehende Arbeiten, darunter Skulpturen, Stoffarbeiten, Videos, Werke aus Glas und ein Video Game, mit denen die Künstlerin verschiedene Narrationen rund um das Thema Zuhause entwickelt. BUILDING A HOME WITH TIME spricht den langsamen Prozess der Bildung eines Ortes an und gleichzeitig die Entwicklung und Konstitution des Seins, die beide aneinander und untrennbar an das Vergehen von Zeit gebunden sind. Oft stellen ihre Arbeiten ihr persönliches Leben in Massstab zu einem Teil abgeschlossener Geschichte, werden aber auch durch aktuelle Ereignisse erweitert – wie jüngst einen Volksaufstand, die Entwertung des libanesischen Pfunds, eine Hyperinflation, eine weltweite Pandemie und eine tödliche Explosion – welche Vergangenes und Gegenwart miteinander verbinden.

Die bestickten Vorhänge von The Encounter of the First and Last Particles of Dust (2019/2020) verteilen sich über drei Räume des Neubaus und rhythmisieren die Architektur und die Bewegung durch den Raum. Es ist eines der zentralen Werke der Ausstellung, bei dem die Künstlerin wie eine Kartographin Strecken vermisst, die sie als Kind und Jugendliche immer wieder zurücklegte. Oft visualisieren die Stickereien auf den vergilbten Vorhängen aus ihrem Elternhaus dieselben Wegstrecken, die sich aber durch die politischen Ereignisse im Libanon über die Zeit immer wieder veränderten, deren Distanz kürzer oder länger wurde, und welche die Zeit zwischen autobiografischen Ereignissen und Geschichte oder die unmögliche Begegnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart andeuten. In dieser Poesie des Intimen rekonstruiert die Künstlerin nicht nur ihre eigene Geschichte und die des Libanon, sondern sie spielt mit den zeitlichen und geografischen Verschiebungen, um ein Gefühl der Orientierungslosigkeit angesichts ihrer persönlichen Umgebung hervorzurufen. Zwischen den Gardinen finden sich kleine Werke mit oftmals ephemer wirkender Präsenz oder Arbeiten, die den Anschein erwecken, als seien sie nur zufällig dort hinterlassen worden: ein Schlüssel zum Haus der Familie im Libanon, der in einer Handvoll Erde aus Paris steckt, wo die Künstlerin zur Zeit der Entstehung des Werks wohnte, als ob sie dieses kleine Stückchen Land «heimischer» werden lassen wollte. So erlaubt das Werk das unmögliche Zusammentreffen von Vergangenheit und Gegenwart. An einem anderen Ort ist eine winzige Skulptur aus reinem Gold und Diamanten in den Boden des Kunsthaus eingelassen. Sie ist wertvoll, beinahe unsichtbar und kann ohne Weiteres unbemerkt von den Besucher*innen betreten werden. Oder wir begegnen einem zerbrochenen Kristallleuchter, der nur noch als Halterung für eine Neonlampe dient, als eine Konstellation, der man häufig in traditionellen libanesischen Häusern begegnet. Die Werke von Stéphanie Saadé fungieren wie Hinweise und Spuren, in denen die heuristische Wirkung der Distanz deutlich wird.

Die Fortsetzung der Ausstellung in den Altbauräumen vereint neue und bestehende Arbeiten, entwickelt verschiedene Narrationen rund um das Thema Zuhause und zeichnet Erinnerungen an den Libanon nach. Das Zuhausesein kann konstitutiv für die Bildung des eigenen Selbst wirken: In der Wohnung findet die Materialisierung des Seins statt, welche die Erzählung der persönlichen Geschichte ermöglicht. Dinge und Räume funktionieren als sinnhafte Spur der vergangenen Ereignisse. Die Pandemie mit ihren Lockdowns bot die Gelegenheit, das Konzept des Zuhauses neu zu überdenken. Die Vorstellung des Reisens, also des sich Entfernens von zu Hause, veränderte sich im Kontext des Eingeschlossenseins. Andere Formen wurden erfordert, wie beispielsweise das Reisen durch die reine Vorstellungskraft. Der schutzbietende Rahmen der eigenen vier Wände wurde für die Menschen in Beirut aber bald in sein Gegenteil umgewandelt: Nach der Explosion im Hafen am 4. August 2020 verloren viele ihre Wohnungen, flohen aus dem Land und liessen ihre Domizile zurück. Das Zuhause wurde erneut zu einer utopischen Vorstellung, die neu konstituiert werden muss. Mit persönlichen Relikten aus den privaten Wohnräumen und der unmittelbaren Umgebung, die Stéphanie Saadé aus ihrem Kontext greift und künstlerisch bearbeitet, hinterlässt sie im Ausstellungsraum Hinweise und Spuren ihrer eigenen Identität, der Geschichte, aber auch des menschlichen Daseins an sich. Einmal begegnen wir einem unscheinbaren weissen Säuglingstuch der libanesischen Marke «Apokalypse», ein Name der aufhorchen lässt. Bei der Explosion der 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen lagerten sich Staub und Schmutz auf seiner weissen Oberfläche ab. Die Künstlerin entschied sich, den Staub zu konservieren, ebenso wie die Faltung, die sich während des Transports des Werks vom Libanon nach Europa auf dem Stoff gebildet hatte. Diese Spuren verweisen für Saadé auf den Massenexodus aus dem Land, den sie selbst miterlebt hatte. Oder, wir finden bei Re-Enactment LB/ Jasmine (2016) die Erinnerung an einen vertrauten Duft vor, der in Beirut in den Strassen und Hinterhöfen der Häuser wabert, wo Jasminblüten getrocknet werden. Eng damit verbunden ist die Arbeit The Smell of Distance (2016), die sich erst gar nicht materialisiert, sondern daraus besteht, dass die Kuratorin während der Ausstellungsdauer jeden Tag ein Jasminpafüm trägt und so den Duft der Blumen wieder wahrnehmbar macht, der sich in den ersten Tagen der Ausstellung bereits verflüchtigt hatte. Bei Free Poetry (2021/22) materialisieren sich die Spuren vergänglicher Zeichnungen im Staub auf Autoscheiben und Fenstern verlassener Häuser in schwebenden Glasobjekten. Im Spiel mit Poetik und Metaphern, die auf Erzählungen, Geschichte und persönlichen Erfahrungen bauen, findet die Künstlerin ein delikates Gleichgewicht zwischen dem, was flüchtig und dem, was greifbar ist.

A Night in Beirut

Parallel zu ihrer Einzelausstellung kuratiert Stéphanie Saadé im Foyer des Kunsthauses ein intimes Filmprogramm mit den libanesischen Künstler*innen Sirine Fattouh (allein und in Zusammenarbeit mit Stéphanie Dadour), Marwan Moujaes, Roy Samaha und Maha Yammine.

Kuratorin der Ausstellung

Stefanie Gschwend, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Kunsthaus Pasquart

Publikation zur Ausstellung

Anlässlich der Ausstellung erscheint im April eine Publikation mit Texten von Caroline Cros und Stefanie Gschwend im Verlag für moderne Kunst (FR/ENG/DT).

Künstleringespräch

Do 28.1.2022, 18:00 (fr)      Stéphanie Saadé im Gespräch mit Stefanie Gschwend.

Öffentliche Führungen

Do 10.2.2022, 18:00 (dt)     Stefanie Gschwend, Kuratorin der Ausstellung

Do 17.3.2022, 18:00 (fr)      Laura Weber, Kunsthistorikerin

Kunstimbiss

Fr 11.3.2022, 12:15 (dt/fr)    Kurzführung mit Imbiss von Batavia. CHF 15.-, Anmeldung: info@pasquart.ch

Stéphanie Saadé, The Encounter of the First and Last Particles of Dust, 2020, Courtesy Barjeel Art Foundation, Sharjah; Building a Home with Time, 2019, Courtesy galerie anne barrault and the artist; Ausstellungsansicht / vue d’exposition / exhibition view Kunsthaus Centre d’art Pasquart, Foto / photo: Stefan Rohner